L. Oates-Indruchová: Censorship in Czech and Hungarian Academic Publishing 1969–89

Cover
Titel
Censorship in Czech and Hungarian Academic Publishing 1969–89. Snakes and Ladders


Autor(en)
Oates-Indruchová, Libora
Erschienen
London 2020: Bloomsbury
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
$ 115.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Lokatis, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, Universität Leipzig

Wie im Leiterspiel „Snakes and Ladders“ ging es Autor:innen wissenschaftlicher Literatur im staatssozialistischen Akademiebetrieb. Ob sich die Publikation eines Titels aus unerfindlichen Gründen um lange Jahre verzögerte, ob ein Manuskript im Cheflektorat oder bei der Zensur seine Warteschleifen drehte (die Schlange) oder ob gute Beziehungen, eine freundliche Planlücke, vielleicht auch ein mehr oder weniger peinlich empfundener Kompromiss das Erscheinen beschleunigen konnte (die Leiter), hing gleichsam an unberechenbarem Würfelglück.

Im Zentrum der Untersuchung stehen die tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften nach dem Prager Frühling, der Umgang mit den darauffolgenden scharfen wissenschaftspolitischen Restriktionen und deren Auswirkungen auf die Publikationspraxis und Zensurmechanismen in den Gesellschaftswissenschaften. Ähnlich wie in dem von der Autorin zur Akzentuierung gewählten ungarischen Vergleichsobjekt, aber wohl deutlich anders als in der DDR oder Polen existierte in der Tschechoslowakei für die Zensur wissenschaftlicher Texte keine formelle Institution, sodass es deshalb weniger um strenge zentrale Vorgaben und Regeln als um Mutmaßungen, vorauseilenden Gehorsam und wissenschaftsinterne Machtspiele gegangen sei. Das anspruchsvolle Ziel der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Libora Oates-Indruchová besteht damit in der Rekonstruktion eines Systems intellektueller Kommunikation, das sich kaum verschriftlichen konnte.

Wie verwöhnt hockt der deutsche Zensurforscher auf seinem unerschöpflichen Aktenmaterial, wenn es darum geht, editorischen Praktiken in der DDR, in ihren Verlagen oder auch vergleichbaren wissenschaftlichen Milieus nachzugehen. Ganz anders die Situation in Tschechien: Hier war es der Autorin anfangs nicht einmal möglich, überhaupt an jene marxistisch-leninistisch geprägte gesellschaftswissenschaftliche Literatur heranzukommen, die nach dem Prager Frühling, in der Phase der sogenannten Normalisierung 1969–1989, entstanden war und danach diskret aus den Bibliotheken entfernt worden ist. Selbst aus dem im Prinzip sichersten Hort, der Nationalbibliothek, verschwanden die Bücher mit dem absurden Argument, es handle sich um graue Literatur (S. 3). Es blieb also nur die Befragung von Zeitzeugen, die, wie die Autorin umsichtig ausführt, nach so langen Jahren, infolge massiver Verdrängung und weitgehend ohne Verankerung in einer schriftlichen Gegenüberlieferung, eigentlich nur zu einer holprigen Angelegenheit werden konnte.

In dieser Not behalf sich die Autorin bei der Auswertung ihrer Interviews mit einer hochoriginellen Vorgehensweise: Sie präsentiert ein fiktives, mehrgängiges Gastmahl mit etwa dreißig Zeitzeug:innen, aus deren niedlich verschlüsselten Namen (wie Mrs. Euphrasia, Dr. Helianthus oder Prof. Lusitani, S. 70f.) nur zu entnehmen ist, ob es sich um Historiker:innen, Philosoph:innen, Soziolog:innen, Literaturwissenschaftler oder Verlagsmitarbeiter:innen, um Tschech:innen oder um (bei passenden Gelegenheiten eher sporadisch kommentierende) Ungar:innen handelt. Auf diese Weise komponiert sie, thematisch gebündelt, sensibel vernetzte, vielstimmige Gespräche über institutionelle Kontrollmechanismen und Karrierechancen an der „normalisierten“ Akademie in Prag, über die Haupt- und Seitenstraßen im Publikationsprozess, die Erfahrungen mit Zensur und Selbstzensur, die Rolle des wissenschaftlichen Autors und den mehr oder weniger äsopischen Charakter seiner Sprache. Man erfährt, sei es trotz oder wegen dieser fiktiven Konstruktion, jedenfalls nirgendwo besser als in diesem Buch, wie ein Autorenkollektiv im Staatssozialismus funktionierte, ob es sich bei der Anonymisierung des Autors bzw. der Autorin eher um eine Schutzmaßnahme oder um Diskriminierung handelte und warum Selbstzensur auch eine Frage der Höflichkeit sein konnte, um einem Lektor oder Kollegen nicht die Funktion des Zensors aufzuzwingen. Wo die Erinnerung des einen Protagonisten verblasst ist, kommt die ähnliche seines Kollegen vielleicht desto frischer daher, und es sind gerade die widersprüchlichen Aussagen, die die Diskussion vorantreiben und ihren Ergebnissen relativierend Plausibilität verleihen.

Die erfrischende Kreativität eines gelungenen Experiments hängt im Bildteil sichtbar an der Wäscheleine. Bunte Zettelchen mit Gesprächsfetzen finden sich auf Laken geklebt, im Bett ausgebreitet oder auf dem Schreibtisch ausgelegt (S. 65–69 und S. 225–229), vielleicht um den konstruktiven Charakter der Puzzelei klarzustellen, oder weil es einfach hübsch aussieht. So etwas kann der Computer nicht, sondern bedarf liebevoller Umsicht und behutsamer historischer Intuition, ist also leider keineswegs eine Vorgehensweise, die sich leicht nachmachen ließe.

Wenn überhaupt ein Einwand erhoben werden soll, so gilt er einer für meinen Geschmack übertriebenen Vorsichtshaltung. Jeder einzelne Schritt wird dem:der Leser:in erläutert, das Ganze entsprechend den selbstreflexiven Grundsätzen der grounded theory gelegentlich allzu umständlich methodisch eingerahmt. Ein solches Kunstwerk braucht sich nicht zu kommentieren.

Für die, was staatssozialistische Zensursysteme angeht, bislang bis auf eine Pionierarbeit Ivo Bocks leider eher unterentwickelte vergleichende Zensurforschung erweist sich besonders die Einleitung als einzigartige Fundgrube.1 Hier gilt es nach über dreißig Jahren immer noch einige Sprachgrenzen zu überwinden, um eine ganze Reihe sonst apokrypher Studien über die Zensur in Volksdemokratien wie Bulgarien, Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und nicht zuletzt der Sowjetunion der Synthese und einem Vergleich mit der ungleich besser erforschten Zensur in der DDR zuzuführen. Leider ist die vor 1989 doch relativ liberale Zensur- und Wissenschaftspolitik Ungarns inzwischen, wie Libora Oates-Indruchová bitter resümiert (S. 326), auf ein restriktives Niveau regrediert, das an die übelsten Zustände zentralistischer kommunistischer Normalisierung nach 1968 in Prag gemahnt.

Anmerkung:
1 Ivo Bock (Hrsg.), Scharf überwachte Kommunikation. Zensursysteme in Ost(mittel)europa (1960er–1980er Jahre), Münster 2011.

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